Donnerstag, 31. Januar 2008

Die Sprache als Haus des Seins

Wer Studenten der Islamwissenschaft kennt, hat vielleicht auch schon einmal deren Klagen bei der Übersetzung philosophischer Texte ins Arabische vernommen. Denn eine Sprache, die das Wort bzw. die Copula "sein" nicht kennt, stellt dem Übersetzer dabei so manches ontologische Beinchen. Gerade Texte Heideggers stellen unter diesem Gesichtspunkt gewiss eine besondere Herausforderung dar.

Interessant ist es daher zu lesen, wie andere Sprachkreise mit solchen Problemen umgeht. Vor kurzem fand ich folgende Einladung zu einem japanischen Heideggerlesekreis als Aushang in der UB (Ausschnitt):


Auf das gemeinsam zu lesende Werk Heideggers (ハイデガーの = haidegaa no = von Heidegger) wird folgendermaßen verwiesen:

“存在ち時間”

Werfen wir einen genaueren Blick auf die Schriftzeichen zwischen den Anführungszeichen!

1) son: be/exist
+ 在
zai: be
= 存在 sonzai: existence

2) ち to: and

3)ji: time/hour
+ 間 kan: interval/counter
= 時間 jikan: time

存在ち時間 => "sonzai to jikan" => "existence and time" => "Sein und Zeit" also wollen sich die Freunde aus dem fernen Osten gemeinsam zu Gemüte führen. Wohl bekomm's!

__________________
Literatur:
Spahn/Hadamitzky: The Kanji Dictionary. Rutland et al. 1996.
Heidegger, M.: Über den Humanismus. 10. Aufl. Frankfurt 2000.

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Montag, 28. Januar 2008

Vinter


Ἐρμῆ, φίλ' Ἐρμῆ, Μαιαδεῦ, Κυλλήνιε,
ἐπεύχομαί τοι, κάρτα γὰρ κακῶς ῥιγῶ
καὶ βαμβαλύζω ...
δὸς χλαῖναν Ἱππώνακτι καὶ κυπασσίκον
καὶ σαμβαλίσκα κἀσκερίσκα καὶ χρυσοῦ
στατῆρας ἑξήκοντα τοὐτέρου τοίχου!

Hermes, lieber Hermes, Sohn der Maia, aus Kyllene,
ich fleh' dich an - ich f-f-f-f-frier' so sehr:
Gib Hipponax Hemd und Hos' zum Anziehen,
Flip-Flops auch und Lederschuh', und für die kalten Füßchen noch
des Nachbars Sparstrumpf obendrein, den prallen!

(frei nach Hipponax, frg. 42 Degani)

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De profundis


Δέδυκε μὲν ἀ σελάννα
καὶ Πληίαδες· μέσαι δὲ
νύκτες, πάρα δ᾿ ἔρχετ᾿ ὤρα...

Versunken ist der Mond
und die Pleiaden: Mitternacht,
die Stunden vergehen...
(nach Sappho, frg. 168b Page)

Sonntag, 27. Januar 2008

Bildung mit Nährwert

Der berühmte Autor des spätantiken Kommentars zu Aeneis, jetzt wahlweise in den Geschmacksrichtungen "Vanille" oder "choc" wohlfeil erhältlich!

Mittwoch, 23. Januar 2008

Down-to-earth

Wenn der Deutsche sich einfach mal frei und ungezwungen unterhalten möchte, spricht er "über Gott und die Welt".

Und der Niederländer? Over koetjes en kalfjes.


Montag, 21. Januar 2008

Unterdrückter Philhellenismus

Wir schütteln den Thesaurus

Heute: Klett Grundwortschatz Griechisch, Buchstabe β

Ergebnis: Ein neues bukolisches Fragment, zugeschrieben Theokrit:
[ὡ]ς ξὺν βορέῳ βίαιον καταβαίν[ει]
βέλος εἰς τῶν βαρβάρων βασιλέα,
αἳ δὴ τοῦ προβάτου βοαὶ βάθους
καβάλλονται [...]
So wie der gewaltbringende Pfeil im Nordwind sich hinabsenkt auf den barbarischen König, so stürzen sich die Schreie des Kleinviehs hinab von der Höhe [...]

Sonntag, 20. Januar 2008

Buchstabenrecycling

Ein knappes Prozent des nicht unbeträchtlichen EU-Haushalts geht für Übersetzungen drauf. Dass sich z.B. Finnland für das neutrale Latein als EU-Sprache aussprach, scheint nicht unvernünftig in Anbetracht dieser Kosten. Im Zuge von Sparmaßnahmen und Rationalisierung entsinnt man sich sprachlicher Gemeinsamkeiten - und läßt die Wurzeln Europas sprießen im Baumarkt, neben der Gartenabteilung gleich rechts, wo mit 40 Watt ein strahlendes Sinnbild Europas aufleuchtet...

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Freitag, 18. Januar 2008

Gesichtsgeschichte

Als Scott Fahlman 1982 aus bitterer Erfahrung heraus sich dafür aussprach, die Zeichenfolge : - ) im elektronischen Schriftverkehr als "joke marker" einzuführen, konnte er noch nicht ahnen, was für ein Fundus von sog. "Emoticons" sich über Jahrzehnte aus dieser Idee entwickeln würde. Auf diesen greifen heutige Internet-User zurück, um ihre emotionale Haltung zum "trockenen" Text zum Ausdruck zu bringen.

Die Idee, Gemütshaltungen zu vertexten, ist nicht neu, wie dieser Ausschnitt aus einem Satiremagazin von 1881 zeigt:
Doch um das Phänomen der Emoticons historisch ein wenig zu beleuchten, reicht es nicht aus, lediglich im Zeitungskorb zu wühlen. Wir wollen hierzu einen alten Text nehmen. Einen wirklichen alten Text. Einen Text, der inhaltlich vor Emotionen geradezu sprüht. Nehmen wir die littera florentina!

Die littera florentina ist die einzige Handschrift der Digesten, d.h. des zentralen Teils des römischen Rechts, die "persönlich" aus der ausgehenden Antike stammt. Sie muss wohl in der zweiten Hälfte des 6. Jhdt. in der Nähe zu Byzanz entstanden sein, und irgendwie irgendwann¹ nach Süditalien gekommen sein. Der Legende nach haben sie die Pisaner dann 1155 bei der Eroberung von Amalfi mitgehen lassen nach Norditalien. Sie iniziierte dort, oder begleitete zumindest den Boom des römischen Rechts in Europa und die Entwicklung der Rechtsschule zu Bologna. Im Zuge der rasenden Verbreitung des römischen Rechtes verbreiteten sich mit den Abschriften ebenso schnell verschiedene Varianten des Rechtstext. Somit wuchs die Bedeutung der littera als ursprünglichste, nicht durch den Überlieferungsprozess verfälschte Handschrift mit den Jahrhunderten. Berühmt sind die Geschichten, wie bedeutende Rechtsgelehrte auf dem Zenit juristischer Streits nach Pisa pilgerten, um mit dem Finger über dem Pergament dem Kontrahenten die korrekte Lesart einer Digestenstelle unter die Nase zu reiben.
Seit Beginn des 15. Jhdt. lagerte der codex dann in Florenz, wo er in Ehrfurcht einflössendem Ambiente nur bei Kerzenschein gezeigt wurde, wie uns der Humanist Angelo Poliziano berichtet.

Bei allem Einfluss, den diese ehrwürdige Handschrift auf die Geschichte des Rechts hatte, bedarf es zugegebenermaßen ein wenig des comic relief, um nicht von Würde und gravitas der wohl kostbarsten Handschrift der Welt erschlagen zu werden. Und wer sich auf die Suche macht nach Spuren des Allzu-Menschlichen, dem wird an einigen Stellen die persönliche Note eines Schreibers des codex über die Jahrtausende hinweg vom Pergament entgegenlachen:


Dieser Schreiber lockert die dröge Monotonie des ewigen "Jurist XY im soundso-vielten Buch zum Edikt" auf, indem er an einigen Stellen² die Buchstaben "O" und "Q" überdimensioniert ausführt, und ihr Inneres mit menschlichen Gesichtszügen ziert. Dabei schöpft er aus einer Bandbreite menschlicher Gefühlsregungen, die den Vergleich mit modernen Emoticons nicht scheuen braucht:










































Jedoch sind die Bücher noch zu schreiben, die an diesen Stellen die Regungen der "Icons" in Verbindung mit dem Inhalt des juristischen Text, oder gar der Psyche des Schreibers setzen...
_______________________
¹ Hierzu Kaiser, W., Zum Aufbewahrungsort des Codex Florentinus in Süditalien. In: Summe - Glosse - Kommentar : Juristisches und Rhetorisches in Kanonistik und Legistik. Frank Theisen (Hrsg.). Osnabrück 2000. S. 95 - 124.
² Zum als "Manus I" identifizierten Schreiber s. Kaiser, W., Schreiber und Korrektoren des Codex Florentinus. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Romanistische Abt. 118 (2001), S. 143 - 149. Eine Übersicht der verzierten Stellen findet sich auf S. 147 Fn. 47.

Freitag, 11. Januar 2008

Helden in Strumpfhosen

Die klugen Alten - das wissen wir dank Galen - haben Bücher geschrieben mit dem Titel περὶ φύσεως, oder zu Deutsch: Über die Natur. Und so verwundert es nicht, dass bei Wilhelm Busch der sehr gescheite Professor Klöhn ebenso über diese spricht, und dabei seine weisen Worte gleich in das Hexametergewand der Alten kleidet:
O verehrtester Freund, nichts gehet doch über die hohe
Weisheit der Mutter Natur, erschuf sie doch mancherlei Kräuter,
harte und weiche zugleich, doch letztere mehr zu Gemüse,
schuf auch die Arten der Tiere, erfreulich, harmlos und nutzbar,
hüllte sie außen in Häute, woraus man Stiefel verfertigt,
füllte sie innen mit Fleisch von sehr beträchtlichem Nährwert!
Hiervon wusste dann, vielleicht gar von Wilhelm Busch, auch der Justus Liebig im selben Jahrhundert. Und da man in Südamerika eher an den Häuten der Tiere, woraus man Stiefel verfertigt, interessiert war, entwickelte er eine Methode, mit der man vor Ort das restliche Fleisch mit seinem beträchtlichen Nährwert konservieren und verschiffen konnte. Nach Klassikern wie der Eisen-Nickellegierung oder dem Superphosphat trat er mit seiner Entwicklung des Fleischextrakts nun entschieden dem Durst der Welt nach Fleischbrühe entgegen. Und mindestens ebenso entschieden trat seine Firma dem Hunger der Gesellschaft nach Allgemeinbildung entgegen, indem sie jeder Dose Fleischextrakt ein werbewirksames Sammelbildchen aus verschiedensten Themenbereichen beilegte.

So muss es wohl auch einmal der Fall gewesen sein bei dem Bild, was mir kürzlich beim Durchkämmen eines alten italienischen Bildbandes entgegensegelte. Der Titel der Sammelreihe "L'enfance d' Italiens célebrès" klingt vielleicht ein wenig speziell für Allgemeinbildung, doch wollen wir uns davon nicht irritieren lassen, sondern es vielmehr auf seinen künstlerischen Nährwert hin untersuchen!
(klicken um Bild zu vergrößern)

Einige Details lassen vermuten, dass der anonyme Künstler recht gut recherchiert hat für sein Werk. Florenz als Ort des Geschehens finden wir geographisch korrekt eingebettet in einen Hintergrund aus sanften toskanischer Hügelchen, besetzt mit den typischen Zederchen.

(Such die Zeder!)

In diese Landschaft schmiegt sich eine Zeichnung des mittelalterlichen Florenz, chronologisch korrekt noch ohne Brunelleschis Kuppel und den Palazzo della Signoria.

Am oberen Rande der Karte prangt hierüber das Wappen der Stadt:
Dante selbst klärt über die Bedeutung der Lilie im 16. Gesang des Paradiso (vv. 151 - 154) auf. Cacciaguida berichtet an dieser Stelle von einem Florenz der Eintracht, das die Bürgerkriege noch nicht gesehen hat:
Con queste genti vid' io glorïoso
e giusto il popol suo, tanto che 'l giglio
non era ad asta mai posto a ritroso,
né per divisïon fatto vermiglio
Es ist die Rede von dem Florenz zu einer Zeit, als die Lilie nie am Speer umgekehrt wurde, noch diese durch Spaltung rot geworden war. Im Wappen kann also Anspielung an jenes Ereignis gelesen werden, als die Guelfen im 13. Jhdt. nach der Vertreibung der kaisertreuen Ghibellinen deren Wappen der weissen Lilie auf rotem Grund ersetzten durch ihr eigenes Wappen, d.h. durch die rote Lilie auf weissem Grund. Dante selbst gehörte eben dieser Partei der Guelfen an, was ihm später eine gewissen Zeit im Exil eintragen sollte.

Im paradiso, aus welchem die obige Stelle stammt, spielt eben jene Beatrice, von deren ersten Erblicken uns das Sammelbildchen berichtet, eine tragende Rolle. Sie wird zu Dantes Führerin durch diesen Abschnitt der Divina Commedia, nachdem er seinen bisherigen Führer und bewährten Begleiter Vergil an der Pforte abgeben musste - weil der gute Heide nicht getauft ist.

Dieses Ereignis, die Begegnung als Neunjähriger mit Beatrice, findet sich in unteren Beschreibung des Sammelbildchens:
(Dante Alighieri, âgé de 9 ans, voit pour la première fois la jeune Béatrice et s'éprend d'elle d'un amour idéal)

Geschildert wird diese Szene mit einer in Dantes Vita Nuova:
Nove fiate già appresso lo mio nascimento era tornato lo cielo de la luce quasi a uno medesimo punto, quanto a la sua propria girazione, quando a li miei occhi apparve prima la gloriosa donna de la mia mente, la quale fu chiamata da molti Beatrice [...]
Und auch die Wirkung der Begegnung mit Beatrice findet sich wenig später in der Beschreibung, wie Amor seit diesem Zeitpunkt seinen Geist beherrscht:
D'allora innanzi dico che Amore segnoreggiò la mia anima, la quale fu sì tosto a lui disponsata, e cominciò a prendere sopra me tanta sicurtade e tanta signoria per la vertù che li dava la mia imaginazione, che me convenia fare tutti li suoi piaceri compiutamente.
Bei all dieser Einbettung in die danteske Werk könnte vielleicht höchstens die Darstellung der Handhaltung Klein-Dantes auf den ersten Blick irritieren:

(finger-pyramid of evil contemplation?)

Doch scheint hier der Künstler auf diese Weise wohl die Ergriffenheit des Herzens des Dichters zum Ausdruck zu bringen. Der einzige Aspekt, hinsichtlich dessen Dantes Text dem anonymen Künstler ein lautes veto! entgegenschreit, ist die Beschreibung von Beatrices Dress:
Apparve vestita di nobilissimo colore, umile ed onesto, sanguigno, cinta e ornata a la guisa che a la sua giovanissima etade si convenia.
Sie erschien also in einem Gewand von edler Farbe, bescheiden und züchtig, von blutroter Farbe, und sie war gegürtet und geschmückt, wie es es ihrem zarten Alter entsprach. Sie erschien also nicht in einem blauen Matrosenanzug mit Schürze und Cape - vielmehr scheint es irritierenderweise der kurze Dante selbst zu sein, der hier in rotem Gewand und gegürtet einherschreitet...

Vielleicht machte ihn gar einer schludrige Übersetzung zum fashion victim? Aber lassen wir uns über diese Details hinweg nicht den Appetit verderben - denn welchem Akademiker wird nicht brühwarm ums Herz beim Gedanken an eine Zeit, in der man mit Dante die Zielgruppe der Entscheidungsträger beim Kauf von Rindsbouillon erreichen konnte...

Studie zur monochiralen Semiotik

Donnerstag, 10. Januar 2008

Hera sucht Helena


γυνὴ γὰρ οὔθ’ Ἑλληνὶς οὔτε βάρβαρος
τεῦχος νεοσσῶν λευκὸν ἐκλοχεύεται,
ἐν ᾧ με Λήδαν φασὶν ἐκ Διὸς τεκεῖν.

(Euripides, Helena, vv. 257 - 259)

Denn wo in welschen Landen oder griechischen
Entsteht ein weißes Schalen-Ei von einem Weib,
Worin mich, sagt man, Ledas Schoß von Zeus gebar?!

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Montag, 7. Januar 2008

El sueño de la razón produce bombos

Aufhebung des 10kg-Limits für Handgepäck

(Klick ins Bild um zu vergrößern. Man labe sich übrigens bitte auch an der raumschaffenden, fluchtpunktorientierten Linienführung, die den Vergleich mit Meistern der Renaissance sicher nicht scheuen braucht. Oder wenn dann vielleicht nur ein ganz klein bisschen.)

Sonntag, 6. Januar 2008

Stiefelchenlager

Drei Assoziationen zur Frage der Entwicklung und ethischen Führung eines Menschen, und ob Sekundärtugenden um ihrer selbst willen erstrebenswert sein sollten:

I) Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz der BRD:
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

II) Pressemitteilung der CDU vom 03.01.2008 zum Thema Bootcamps, in welchen die staatliche Gemeinschaft bzw. die CDU dieser den Eltern zuvörderst obliegende Pflicht mit militärischem Drill und Disziplin nachkommen will:
Die Jugendlichen werden an einen strukturierten Tagesablauf gewöhnt, sie üben Umgangsformen ein, die für das gesellschaftliche Miteinander unabdingbar sind, sie lernen, dass die Nichteinhaltung bestimmter Regeln Konsequenzen hat und nicht zuletzt erfahren sie in den Camps Aufmerksamkeit, Zuwendung und Geborgenheit.


III) Ludwig Quidde, Der Militarismus im heutigen Deutschen Reich (1893):
Für den Geist des Militarismus in der Armee sind zwei Züge charakteristisch, 1. die unbedingte blinde Unterwerfung jedes Einzelnen unter den Willen des Vorgesetzten, auf Kosten alles dessen, was sonst für menschliche Entwicklung Wert besitzt und 2. eine sich auf dieser Grundlage entwickelnde Mißachtung humanen Empfindens, die sich unter Umständen ungestraft bis zu Brutalitäten steigern darf. Mit allen Empfindungen nicht nur von Menschlichkeit, sondern auch von Recht und Gerechtigkeit kommt die militärische Auffassung in Konflikt, wenn sie ihre Anschauungen von "Disziplin" betätigt.

Ludwig Quidde, geb. 1858 in Bremen, war Historiker, Demokrat, Republikaner, Leiter des Preussischen Historischen Instituts in Rom (dem heutigen DHI), Publizist, Pazifist und zweiter deutscher Friedensnobelpreisträger (1927). Ende des 19. Jahrhundert erlangte er größte Bekanntheit durch eine kleine, jedoch millionenfach gedruckte Schrift namens Caligula - Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn, in welcher er unter dem Deckmantel eines historischen Porträts unmissverständlich die Parallelen zu Kaiser Willhelm II. aufzeigte.

Donnerstag, 3. Januar 2008

Tully

(Credits an: Erasmus von Rotterdam, Dialogus Ciceronianus)

bwohl es ein eher grauer und verregneter Nachmittag war, an dem Herr Vogt und Herr Gebbrad, zwei Herren mittleren Alters, sich trafen, schien sich keinerlei erkennbare Trübung ihres Gemütes einzustellen. Was diese eigentlich grundverschiedenen Männer über ihrer Tätigkeit als Oberstudienräte hinaus vereint, ist neben ihrer gemeinsame Passion für das Sammeln und allmonatliche Reklamieren von rechtschreibfehlerbehafteten Zeitungsbeiträgen, von der sie jedoch gegenseitig nicht wissen, ihre gemeinsame Liebe zu Tully. Tully, jener kometenhaft aufgestiegene Star aus ihrer Jugend, dessen eingängige Texte sie nie verlassen haben; Tully, der ihnen einen Ort zum Träumen gegeben hatte, einen Ort so ganz anders als diese verrohte Gegenwart; jener Tully, der (wie er beizeiten auch selbst zu glauben schien) von einer höheren Machteinfach dazu bestimmt worden sein musste, dem Lebensgefühls einer ganzen Generation Ausdruck zu verleihen.

Es ist somit kein unbedeutender Mann, dem die Societas Ciceroniana e.V am dritten Januar die Ehre erweist, wenn sie sich, wie jedes Jahr, im "Walfisch", dem inoffiziellen Clubheim, versammelt, um in trauter Runde den Geburtstag Tullys zu begehen.


So tun es auch eben jene beiden unscheinbaren Gestalten, Herr Gebbrad, seines Zeichens zweiter Vorsitzender der Societas, und deren Kassenwart, Herr Vogt. Zugegeben, die glanzvollen Zeiten Tullys liegen vielleicht schon etwas zurück - aber umso verträumter denkt man gerne zusammen bei einem Kaltgetränk zurück an damals, an die erste Goldene Schallplatte des latinischen Phonoverbandes zum Beispiel, die Tully für sein Werk als Newcomer in Italien erhielt. Man schwelgt in Erinnerung an sein fulminantes Comeback in Italien, Frankreich, Deutschland, England - ja, an damals, als ganz Europa sein Liedchen trällerte, und jeder Versuch, etwas Neues zu schaffen, über den Status einer mäßigen Cover-Version Tullys nicht hinaus kam. Doch das Echo von Tullys großen Erfolgen scheint langsam zu verhallen, und es ist ruhig geworden um ihn, wenn man einmal absieht von den hidden tracks des Albums "De Rap-Publica", die ein italienischer Liebhaber vor kurzem in einem verstaubten Keller gefunden hatte. Aber nichtsdestotrotz hält die eingeschworene und wohlorganisierte Fangemeinde aus Jung und Alt ihrem Tully weiterhin die Treue.

Gastronka Nosopona gehört zu den jüngeren Mitgliedern jener Societas. Denn an jenem Tag, den sie wie so unzählige andere vor dem Fernseher auf der heimischen Couch verbrachte, nach welchem aber, wie sie gerne berichtet, "nichts mehr so war wie zuvor", hielt ihr rhythmisch die Programmvorschalttaste der Fernbedienung betätigender Finger für einen entscheidenden Moment lang inne. Sie war schlagartig ergriffen von den Worten, mit denen ein charismatischer Teleshopping-Moderator mit Kurzarmhemd, claqueuristischer Assistentin und breiten Kotteletten, die auf eine subtile Weise die Air des arbiter elegantium verblühter Zeiten verströmten, die Time-Life-Edition des Gesamtwerks von Tully anpries. Ungeachtet der akustischen Konkurrenz zu ihrer Mutter, welche mit lethargischem Gesichtsaudruck zu den Klängen von Milva hinter ihr die Wohnung staubsaugte, klebte sie voller Faszination an seinen Lippen.

üssliche Worte, wie von Honig, flossen aus ihnen, und fielen durch Gastronkas kleine Schweinsöhrchen tief in ihre Seele; Worte, die erzählten von der Aufstiegsgeschichte dieses so vielfältigen, so selbstbewussten, so tiefsinnigen Mannes; Worte, die sich in atemberaubender Geschwindigkeit wie von selbst zu einer faszinierenden Figur zusammenfügten, welche wiederum in einem banalen, aber zweifelsohne Wirkung zeigenden tiefenpsychologischen Prozess schlagartig ein inneres Vakuum in ihr zu füllen schienen. Denn niemand, auch nicht sie selbst, hatte bisher jenem diffusen Gefühl in ihrem Innern Ausdruck verleihen können, niemand hatte den Aufstiegsdruck begriffen, den ihre Familie mit Migrationshintergrund auf ihren Schultern lasten liess, niemand gab diesem etwas pummeligen Teenie mit unvorteilhafter Haut Hoffnung, jemals anerkannt und geliebt zu werden - niemand bis auf Tully, dessen lebenslanges Streben nach jenem einen pat-on-the-shoulder sie beide vereinte, wie ihr schlagartig an diesem Nachmittag klar wurde.
So fiel es ihr nicht schwer, ihr Konto zu leeren für jenen dicken Schuber, zumal ihr auch noch die Sonderausgabe von Tullys Best-of "Standing Orations" inklusive "Dreaming like Scipio" versprochen wurde unter der Bedingung, dass sie sie innerhalb der nächsten halben Stunde bestellen würde.

ormalerweise hätte man, wenn Gastronka die Gaststätte betreten hätte, nicht sagen können, ob es die widrige Witterung, oder eher der von Bewegungsmangel und Hüftgold induzierter Blutdruck war, der den entscheidenden Beitrag zu ihrer Wangenfärbung geleistet hat. Etwas unbeholfen hätte die Mittelstüflerin sich von den leicht spannenden Gurten ihres Rucksacks befreit, auf dem sich zwischen unzähligen Akronymen pubertärer Zuneigungsbekundungen vereinzelt auch Schriftzüge wie "Tully4Ever" finden, Seite an Seite mit in ausladend geschwungene Herzen gefassten "M.T.C. !!!"s.

Diesmal jedoch scheint alles etwas anders anders. Während sie an der Garderobe ihre Jacke ablegt, merkt sie nicht, wie von Zeit zu Zeit die Blicke der beiden Männer sie treffen, welche nicht aufhören, über sie zu tuscheln, solange sie sich noch nicht in Hörweite des Tully-Stammtisches befindet.

Geb. Wen erblicket mein Auge dort, gehobenen Hauptes die Pforte des Hauses betretend? Gastronka scheint's mir zu sein, doch was meinst du, o Vogt?
Vgt. Ob's Gastronka ist? Schweren Zweifel legt Athene tief mir in's Herz, denn wohin so plötzlich ihre stolze Plauze, wohin der roten Bäcklein volle Glut?
Geb. Wahr sprichst Du ob ihrem Aussehen. Krank erscheint sie mir, ganz abgemagert, als ob ein Bandwurm durchwühlet ihr innerstes Gedärm...
Vgt. Oder gar die Gripp'? Man weiss es nicht, doch nichts des Guten zu versprechen scheint ihr Antlitz...

(Gastronka tritt näher heran)

Vgt. Sei gegrüsset!
Geb. Und auch ich entsende Dir meine Grüsse und frage, auf dass Du mir antwortest, wie es Dir geht!
Gst. Ach, frag nicht...
Geb. So sprich doch, denn gar kränklich erscheint uns Dein Antlitz. Ist's die Leber vielleicht?
Gst. Nein, nein... eher am Herzen.. (schaut schüchtern) ... aber es ist hoffnungslos.
Geb. Pflegst kein Vertrauen Du zu haben in des Hippokrates Zunft?
Gst. Ich glaub ich brauch ein göttliches Wunder, der Arzt kann da nicht viel machen...
Geb. So ist es? So sag, zu welchem Gott im Gebete wir sollen erheben die Hände, und entzünden weihrauchbringende Gaben auf krumm gehörnten Altären, auf dass sie steigen hinauf in den himmlischen Äther!
Gst. (verknotet verträumt dreinschauend in Dingsda-Manier die Hände) hmmm.. zu dem Amor vielleicht? (kichert unsicher)
Geb. So dünkt mich richtig, dass Dich peinigt Cupido, jener finst're Gesell? Sprich, wie viel der Zeit ist schon vergangen, seitdem sein güld'nes Geschoss Dir erschüttert' das Mark tief in den Gliedern?
Gst. Boah Du das weiss ich gar nicht mehr so, voll lange schon. Das macht mich fertig, so richtig, kannst Du das verstehen?
Geb. Süß ist gar manch' Erinn'rung an der Jugend Raserei, doch bitter war's fürwahr, in tiefer Sehnsucht trügend Wolken nur zu greifen, ähnlich einst dem schändlich' Ixion...
Gst. Ich find ihn halt sooo süß. Aber ich komm einfach nicht an ihn ran...
Geb. So sag, wer ist's, nach welchem Du strebest, in glüh'ndem Eros entflammet?
Gst. hmmm (schüchtern mit den Augen klimpernd)... Tully isses, den ich so lieb hab...
Geb. (lacht) wenn's weiter nichts ist, so sag ich Dir, dass wir beide sind Rivalen im Streben; Sternenhascher gar, die langen Haare eines strahl'nden Kometen zu greifen versuchend, wie Apollon einst, nach Daphnens Locken reichend, des Laubes griff und Beeren nur.
Gst. Boah echt? Findest Du den Tully etwa auch so goldig wie ich?
Geb. Boah jaaa, ich sag's Dir, der ist soooo süß!
Vgt. Dann kann ich's ja auch sagen, dass ich eigentlich auch schon voll lang verknallt bin in den. Der hat sooo coole Sachen gesagt, seine Sätze hängen mir im Mark wie dem heiligen Sebastian die Pfeile!
Geb. & Gst. Häh? Du redest aber voll komisch, Vogt.
Vgt. Nee, ich find halt, der Tully ist auch viel cooler als all die anderen, die ihn irgendwie nur nachmachen wollen. Nur es gibt halt echt ein paar blöde Leute, so in der Bravo und so, die das nicht kapieren. Ich find das manchmal voll traurig.
Geb. Ja klar, finden wir auch. Aber es ist halt auch voll wichtig, dass wir alle zusammenhalten und uns als Fans nicht unterkriegen lassen.
Gst. Find ich auch. Ich hab alle anderen Sachen, sogar die alten Wendy-Hefte, aus meinem Regal geworfen, damit ich nur noch Platz habe für Tully und nichts irgendwie ihm im Weg steht oder mich von ihm ablenkt. Und um meine Box, wo alles von ihm drin ist, hab ich in einen richtigen kleinen Schrein gemacht!
Vgt. Boah voll coool!
Gst. Und ich hab an alle vier Wände meines Zimmers Poster von Tully gehangen und Glitzersticker aus der Yam! drumrumgeklebt, damit ich ihn sehen kann, egal wo ich hinschau!


Geb. Boah krass, Du bist ja wirklich ein super treuer Fan!
Vgt. Ich hab jetzt dem Tully jetzt mit Ausschnitten von Fotos aus alten Bravos einen Platz in meinem Kalender gemacht, zwischen all den Geburtstagen meiner Freunde, damit ich voll rechtzeitig an ihn denke!
Geb. Ja, das ist auch eine voll schöne Idee!
Gst. Ja ich find ich auch. Ich finden Tully so toll, dass ich manchmal Angst hab, so was Schlimmes könnte mir passieren. Oder dass ich was sagen könnte, was er so nicht sagen würde oder nicht so cool finden würde. Kennt ihr das? Mich macht diese Angst manchmal voll fertig irgendwie so.
Vgt. Nee Du, das versteh ich voll gut, ich kenn das auch. Aber es ist glaub ich auch voll schwer, zu wissen, was er so sagen würde, weil er einfach so wahnsinnig kreativ und gebildet und einzigartig und einfach sooo goldig ist!
Gst. Ja, wobei ich ihn sicher noch ein bisschen süßer finde als Du!
Vgt. Das stimmt nicht! Ich fand ihn schon viel früher cool als Du, als Du noch auf Quintillian standest und seine blöde Nachäffer-Crew!
Gst. Dafür hab ich jetzt angefangen jeden Schnipsel aus Interviews und alles überhaupt von Tully zu sammeln und zu sortieren, damit ich alles weiss, was er wann wozu gesagt hat! Und dann bin ich die einzigste von uns, die beim Starquiz mit Kai Pflaume im April das Treffen mit Tully gewinnt! (...)






Ort des Geschehens an dieser Stelle des Gesprächs nun langsam, aber bestimmt verlassen, indem wir, den Rücken zum Ausgang gewandt, sachten Schrittes zur Türe schreiten. Denn ersparen wollen wir uns den Anblick des nun entstehenden Streites und der inneren Wirren, welche im Folgenden über die Societas Ciceroniana hereinbrechen. Das letzte, was wir auf unserem Rückzug erblicken, ist Gastronka, wie mit Tränen in den Augen sie kurz darauf den "Walfisch" verlässt. Ihre Zähne knirschen wütend aufeinander, so dass sie kaum merkt, wie der spitze Stahl ihrer Zahnspange sich ihr tief ins Zahnfleisch bohrt. Mit den glänzenden, speckigen Finger ihrer linken Hand krallt sie sich tief in die Falten ihrer Manteltaschen. Die Rechte hält sie zu einer entschlossenen Faust verkrampft. Denn nach all dem Neid der anderen Tully-Fans auf sie und das Feuer, welches tief in ihr nur für Tully lodert - viel stärker als in all den anderen, wie sie weiss - fühlt sie sich nur bestärkt in ihrem Tun - und fühlt sich bestärkt in ihrer niemals enden werdenden Liebe zu Tully, für welche sie heute ein weiteres Mal furchtlos eingetreten ist. Quis enim non malit apud posteros celebrari Ciceronianus quam Sanctus?