Donnerstag, 3. Januar 2008

Tully

(Credits an: Erasmus von Rotterdam, Dialogus Ciceronianus)

bwohl es ein eher grauer und verregneter Nachmittag war, an dem Herr Vogt und Herr Gebbrad, zwei Herren mittleren Alters, sich trafen, schien sich keinerlei erkennbare Trübung ihres Gemütes einzustellen. Was diese eigentlich grundverschiedenen Männer über ihrer Tätigkeit als Oberstudienräte hinaus vereint, ist neben ihrer gemeinsame Passion für das Sammeln und allmonatliche Reklamieren von rechtschreibfehlerbehafteten Zeitungsbeiträgen, von der sie jedoch gegenseitig nicht wissen, ihre gemeinsame Liebe zu Tully. Tully, jener kometenhaft aufgestiegene Star aus ihrer Jugend, dessen eingängige Texte sie nie verlassen haben; Tully, der ihnen einen Ort zum Träumen gegeben hatte, einen Ort so ganz anders als diese verrohte Gegenwart; jener Tully, der (wie er beizeiten auch selbst zu glauben schien) von einer höheren Machteinfach dazu bestimmt worden sein musste, dem Lebensgefühls einer ganzen Generation Ausdruck zu verleihen.

Es ist somit kein unbedeutender Mann, dem die Societas Ciceroniana e.V am dritten Januar die Ehre erweist, wenn sie sich, wie jedes Jahr, im "Walfisch", dem inoffiziellen Clubheim, versammelt, um in trauter Runde den Geburtstag Tullys zu begehen.


So tun es auch eben jene beiden unscheinbaren Gestalten, Herr Gebbrad, seines Zeichens zweiter Vorsitzender der Societas, und deren Kassenwart, Herr Vogt. Zugegeben, die glanzvollen Zeiten Tullys liegen vielleicht schon etwas zurück - aber umso verträumter denkt man gerne zusammen bei einem Kaltgetränk zurück an damals, an die erste Goldene Schallplatte des latinischen Phonoverbandes zum Beispiel, die Tully für sein Werk als Newcomer in Italien erhielt. Man schwelgt in Erinnerung an sein fulminantes Comeback in Italien, Frankreich, Deutschland, England - ja, an damals, als ganz Europa sein Liedchen trällerte, und jeder Versuch, etwas Neues zu schaffen, über den Status einer mäßigen Cover-Version Tullys nicht hinaus kam. Doch das Echo von Tullys großen Erfolgen scheint langsam zu verhallen, und es ist ruhig geworden um ihn, wenn man einmal absieht von den hidden tracks des Albums "De Rap-Publica", die ein italienischer Liebhaber vor kurzem in einem verstaubten Keller gefunden hatte. Aber nichtsdestotrotz hält die eingeschworene und wohlorganisierte Fangemeinde aus Jung und Alt ihrem Tully weiterhin die Treue.

Gastronka Nosopona gehört zu den jüngeren Mitgliedern jener Societas. Denn an jenem Tag, den sie wie so unzählige andere vor dem Fernseher auf der heimischen Couch verbrachte, nach welchem aber, wie sie gerne berichtet, "nichts mehr so war wie zuvor", hielt ihr rhythmisch die Programmvorschalttaste der Fernbedienung betätigender Finger für einen entscheidenden Moment lang inne. Sie war schlagartig ergriffen von den Worten, mit denen ein charismatischer Teleshopping-Moderator mit Kurzarmhemd, claqueuristischer Assistentin und breiten Kotteletten, die auf eine subtile Weise die Air des arbiter elegantium verblühter Zeiten verströmten, die Time-Life-Edition des Gesamtwerks von Tully anpries. Ungeachtet der akustischen Konkurrenz zu ihrer Mutter, welche mit lethargischem Gesichtsaudruck zu den Klängen von Milva hinter ihr die Wohnung staubsaugte, klebte sie voller Faszination an seinen Lippen.

üssliche Worte, wie von Honig, flossen aus ihnen, und fielen durch Gastronkas kleine Schweinsöhrchen tief in ihre Seele; Worte, die erzählten von der Aufstiegsgeschichte dieses so vielfältigen, so selbstbewussten, so tiefsinnigen Mannes; Worte, die sich in atemberaubender Geschwindigkeit wie von selbst zu einer faszinierenden Figur zusammenfügten, welche wiederum in einem banalen, aber zweifelsohne Wirkung zeigenden tiefenpsychologischen Prozess schlagartig ein inneres Vakuum in ihr zu füllen schienen. Denn niemand, auch nicht sie selbst, hatte bisher jenem diffusen Gefühl in ihrem Innern Ausdruck verleihen können, niemand hatte den Aufstiegsdruck begriffen, den ihre Familie mit Migrationshintergrund auf ihren Schultern lasten liess, niemand gab diesem etwas pummeligen Teenie mit unvorteilhafter Haut Hoffnung, jemals anerkannt und geliebt zu werden - niemand bis auf Tully, dessen lebenslanges Streben nach jenem einen pat-on-the-shoulder sie beide vereinte, wie ihr schlagartig an diesem Nachmittag klar wurde.
So fiel es ihr nicht schwer, ihr Konto zu leeren für jenen dicken Schuber, zumal ihr auch noch die Sonderausgabe von Tullys Best-of "Standing Orations" inklusive "Dreaming like Scipio" versprochen wurde unter der Bedingung, dass sie sie innerhalb der nächsten halben Stunde bestellen würde.

ormalerweise hätte man, wenn Gastronka die Gaststätte betreten hätte, nicht sagen können, ob es die widrige Witterung, oder eher der von Bewegungsmangel und Hüftgold induzierter Blutdruck war, der den entscheidenden Beitrag zu ihrer Wangenfärbung geleistet hat. Etwas unbeholfen hätte die Mittelstüflerin sich von den leicht spannenden Gurten ihres Rucksacks befreit, auf dem sich zwischen unzähligen Akronymen pubertärer Zuneigungsbekundungen vereinzelt auch Schriftzüge wie "Tully4Ever" finden, Seite an Seite mit in ausladend geschwungene Herzen gefassten "M.T.C. !!!"s.

Diesmal jedoch scheint alles etwas anders anders. Während sie an der Garderobe ihre Jacke ablegt, merkt sie nicht, wie von Zeit zu Zeit die Blicke der beiden Männer sie treffen, welche nicht aufhören, über sie zu tuscheln, solange sie sich noch nicht in Hörweite des Tully-Stammtisches befindet.

Geb. Wen erblicket mein Auge dort, gehobenen Hauptes die Pforte des Hauses betretend? Gastronka scheint's mir zu sein, doch was meinst du, o Vogt?
Vgt. Ob's Gastronka ist? Schweren Zweifel legt Athene tief mir in's Herz, denn wohin so plötzlich ihre stolze Plauze, wohin der roten Bäcklein volle Glut?
Geb. Wahr sprichst Du ob ihrem Aussehen. Krank erscheint sie mir, ganz abgemagert, als ob ein Bandwurm durchwühlet ihr innerstes Gedärm...
Vgt. Oder gar die Gripp'? Man weiss es nicht, doch nichts des Guten zu versprechen scheint ihr Antlitz...

(Gastronka tritt näher heran)

Vgt. Sei gegrüsset!
Geb. Und auch ich entsende Dir meine Grüsse und frage, auf dass Du mir antwortest, wie es Dir geht!
Gst. Ach, frag nicht...
Geb. So sprich doch, denn gar kränklich erscheint uns Dein Antlitz. Ist's die Leber vielleicht?
Gst. Nein, nein... eher am Herzen.. (schaut schüchtern) ... aber es ist hoffnungslos.
Geb. Pflegst kein Vertrauen Du zu haben in des Hippokrates Zunft?
Gst. Ich glaub ich brauch ein göttliches Wunder, der Arzt kann da nicht viel machen...
Geb. So ist es? So sag, zu welchem Gott im Gebete wir sollen erheben die Hände, und entzünden weihrauchbringende Gaben auf krumm gehörnten Altären, auf dass sie steigen hinauf in den himmlischen Äther!
Gst. (verknotet verträumt dreinschauend in Dingsda-Manier die Hände) hmmm.. zu dem Amor vielleicht? (kichert unsicher)
Geb. So dünkt mich richtig, dass Dich peinigt Cupido, jener finst're Gesell? Sprich, wie viel der Zeit ist schon vergangen, seitdem sein güld'nes Geschoss Dir erschüttert' das Mark tief in den Gliedern?
Gst. Boah Du das weiss ich gar nicht mehr so, voll lange schon. Das macht mich fertig, so richtig, kannst Du das verstehen?
Geb. Süß ist gar manch' Erinn'rung an der Jugend Raserei, doch bitter war's fürwahr, in tiefer Sehnsucht trügend Wolken nur zu greifen, ähnlich einst dem schändlich' Ixion...
Gst. Ich find ihn halt sooo süß. Aber ich komm einfach nicht an ihn ran...
Geb. So sag, wer ist's, nach welchem Du strebest, in glüh'ndem Eros entflammet?
Gst. hmmm (schüchtern mit den Augen klimpernd)... Tully isses, den ich so lieb hab...
Geb. (lacht) wenn's weiter nichts ist, so sag ich Dir, dass wir beide sind Rivalen im Streben; Sternenhascher gar, die langen Haare eines strahl'nden Kometen zu greifen versuchend, wie Apollon einst, nach Daphnens Locken reichend, des Laubes griff und Beeren nur.
Gst. Boah echt? Findest Du den Tully etwa auch so goldig wie ich?
Geb. Boah jaaa, ich sag's Dir, der ist soooo süß!
Vgt. Dann kann ich's ja auch sagen, dass ich eigentlich auch schon voll lang verknallt bin in den. Der hat sooo coole Sachen gesagt, seine Sätze hängen mir im Mark wie dem heiligen Sebastian die Pfeile!
Geb. & Gst. Häh? Du redest aber voll komisch, Vogt.
Vgt. Nee, ich find halt, der Tully ist auch viel cooler als all die anderen, die ihn irgendwie nur nachmachen wollen. Nur es gibt halt echt ein paar blöde Leute, so in der Bravo und so, die das nicht kapieren. Ich find das manchmal voll traurig.
Geb. Ja klar, finden wir auch. Aber es ist halt auch voll wichtig, dass wir alle zusammenhalten und uns als Fans nicht unterkriegen lassen.
Gst. Find ich auch. Ich hab alle anderen Sachen, sogar die alten Wendy-Hefte, aus meinem Regal geworfen, damit ich nur noch Platz habe für Tully und nichts irgendwie ihm im Weg steht oder mich von ihm ablenkt. Und um meine Box, wo alles von ihm drin ist, hab ich in einen richtigen kleinen Schrein gemacht!
Vgt. Boah voll coool!
Gst. Und ich hab an alle vier Wände meines Zimmers Poster von Tully gehangen und Glitzersticker aus der Yam! drumrumgeklebt, damit ich ihn sehen kann, egal wo ich hinschau!


Geb. Boah krass, Du bist ja wirklich ein super treuer Fan!
Vgt. Ich hab jetzt dem Tully jetzt mit Ausschnitten von Fotos aus alten Bravos einen Platz in meinem Kalender gemacht, zwischen all den Geburtstagen meiner Freunde, damit ich voll rechtzeitig an ihn denke!
Geb. Ja, das ist auch eine voll schöne Idee!
Gst. Ja ich find ich auch. Ich finden Tully so toll, dass ich manchmal Angst hab, so was Schlimmes könnte mir passieren. Oder dass ich was sagen könnte, was er so nicht sagen würde oder nicht so cool finden würde. Kennt ihr das? Mich macht diese Angst manchmal voll fertig irgendwie so.
Vgt. Nee Du, das versteh ich voll gut, ich kenn das auch. Aber es ist glaub ich auch voll schwer, zu wissen, was er so sagen würde, weil er einfach so wahnsinnig kreativ und gebildet und einzigartig und einfach sooo goldig ist!
Gst. Ja, wobei ich ihn sicher noch ein bisschen süßer finde als Du!
Vgt. Das stimmt nicht! Ich fand ihn schon viel früher cool als Du, als Du noch auf Quintillian standest und seine blöde Nachäffer-Crew!
Gst. Dafür hab ich jetzt angefangen jeden Schnipsel aus Interviews und alles überhaupt von Tully zu sammeln und zu sortieren, damit ich alles weiss, was er wann wozu gesagt hat! Und dann bin ich die einzigste von uns, die beim Starquiz mit Kai Pflaume im April das Treffen mit Tully gewinnt! (...)






Ort des Geschehens an dieser Stelle des Gesprächs nun langsam, aber bestimmt verlassen, indem wir, den Rücken zum Ausgang gewandt, sachten Schrittes zur Türe schreiten. Denn ersparen wollen wir uns den Anblick des nun entstehenden Streites und der inneren Wirren, welche im Folgenden über die Societas Ciceroniana hereinbrechen. Das letzte, was wir auf unserem Rückzug erblicken, ist Gastronka, wie mit Tränen in den Augen sie kurz darauf den "Walfisch" verlässt. Ihre Zähne knirschen wütend aufeinander, so dass sie kaum merkt, wie der spitze Stahl ihrer Zahnspange sich ihr tief ins Zahnfleisch bohrt. Mit den glänzenden, speckigen Finger ihrer linken Hand krallt sie sich tief in die Falten ihrer Manteltaschen. Die Rechte hält sie zu einer entschlossenen Faust verkrampft. Denn nach all dem Neid der anderen Tully-Fans auf sie und das Feuer, welches tief in ihr nur für Tully lodert - viel stärker als in all den anderen, wie sie weiss - fühlt sie sich nur bestärkt in ihrem Tun - und fühlt sich bestärkt in ihrer niemals enden werdenden Liebe zu Tully, für welche sie heute ein weiteres Mal furchtlos eingetreten ist. Quis enim non malit apud posteros celebrari Ciceronianus quam Sanctus?





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