Saint-Denis: Wiege der Gotik (Teil 2)
Portarum quisquis attollere quaeris honorem,
Aurum nec sumptus, operis mirare laborem.
Nobile claret opus, sed opus quod nobile claret
Clarificet mentes, ut eant per lumina vera
Ad verum lumen, ubi Christus janua vera.Übersetzung beider Seiten:
Quale sit intus in his determinat aurea porta:
Mens hebes ad verum per materialia surgit,
Et demersa prius hac visa luce resurgit.
Wer Du auch immer bist, der du danach trachtest, den Ruhm der Türen zu erheben,
bewundere das Gold und nicht die Kosten, die Mühe des Werkes:
Herrlich strahlt das Werk; aber das Werk, was herrlich strahlt,
möge erhellen die Geister, so dass sie gehen durch die wahren Lichter
[Anfang rechte Seite] Zum wahren Licht, wo Christus die wahre Tür ist.
Wie beschaffen es sei in diesen, bestimmt die goldene Pforte:
Der schwache Geist erhebt sich zum Wahren durch die materiellen Dinge,
und der früher ins Verderben Gesunkene erhebt sich, nachdem das Licht gesehen ward, aufs neue.[Übersetzung frei nach Nicolai, 2007]
Bevor der Kirchenbesucher eintrat, begrüßte ihn über dem Portal eine Darstellung von Jesus als Weltenrichter beim jüngsten Gericht. In der Bildzeile zu Jesu Füssen erinnern die aus den geöffneten Grabplatten kriechenden Leiber ihn an sein bevorstehendes Schicksal:
Allgemein spricht man in Bezug auf die Gotik oft von einer jenseitsbezogenen, "auferstehungslastigen", transzendierenden Architektur. Diese Interpretationsrichtung spiegelt sich auch in dem Streben in die Höhe und der Dematerialisierung des Gebäudes wieder: im filigranen Maßwerk, das gerade im Kontrast zu den massiven Mauern der Romanik in der Entwicklung der Gotik immer mehr einen schwebenden Charakter einnimmt.
Die "Einlieger" der Nekropole von Saint-Denis lesen sich wie ein "who-is-who" der französischen Herrschergeschlechter des Mittelalters. Einzelne Persönlichkeiten finden sich auch in den farbenreichen Fenstern der Kirche dargestellt:
Die französische Revolution verschonte Saint-Denis nicht. Die Fenster wie auch die Herrscherdarstellungen auf der Fassade wurden stark in Mitleidenschaft gezogen. Darüberhinaus leerte der Mob auch die Gräber und legte die sterblichen Überreste in einem Massengrab bei. Spätere, nicht in gleichem Maße monarchiefeindliche Generationen, kümmerten sich schon im 19. Jhdt. um die Restauration der Schäden. Erst seit 1993 kann die Nekropole jedoch wieder im vollständig wiederhergestelltem Zustand besichtigt werden.