Dienstag, 12. Februar 2008

Der Weltkrieg der Götter

Vor einigen Tagen erstand ich in einem kleinen Antiquariat eine Anthologie altgriechischer Lyrik. Es war nicht das erste Mal, dass mir beim Blättern durch die Altersduft verströmenden Seiten ein Dokument aus vergangenen Zeiten entgegen segelte. Doch was ich als zusammengelegten Zeitungsausschnitt in dem Buch fand, entfaltete sich zu einem beeindruckenden Zeugnis jüngerer Geistesgeschichte:

Das über dem Titel prangende DAZ steht für die "Deutsche Allgemeine Zeitung". Ihr Vorgänger, das "Norddeutsche Volksblatt", war seinerzeit das Sprachrohr Bismarcks. Die entsprechend konservative Haltung sollte die Zeitung über die meiste Zeit hinweg beibehalten bis zu ihrer Gleichschaltung nach der Machtergreifung Hitlers.
Der Verfasser, Maximilian von Hagen, fügt sich recht gut in die konservative Tradition der Zeitung. Er war als Historiker und Publizist tätig und ist Autor einiger Bücher über Bismarck und seine Politik. In einem seinen Bücher verrät er dem Leser kurz vor Niedergang der Weimarer Republik den Antrieb zu seinen Forschungen über diesen "größten Staatsmann": Durch diese wolle er beitragen "zur Vorbereitung desjenigen Bismarckbildes, das unserer Zeit als Ideal vorschweben muß".1

("Dropping the pilot" aus der englischen Zeitschrift The Punch)

Ausgangspunkt des Artikels, um welchen es sich an dieser Stelle dreht, sind die Eindrücke des Verfassers nach einer Komplettlektüre von Ilias und Odyssee, nachdem er diese Werke nach dem Gymnasium mal wieder in die Hand nahm.

Der Autor spielt hier auf die Ergebnisse der Homerforschung der vergangenen Jahrzehnte an. Und in der Tat hatte sich von Verlassen des Gymnasiums bis zum Erscheinen des Artikels 1939 einiges getan in der Homerforschung. Das Bild der eingestürzten Welten, das von Hagen zeichnet, greift die Forschungsrichtung der sogenannten Analyse auf, der Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff 1916 zu ihrem Zenit verholfen hatte. Hierunter fasst man verschiedene Forschungsansätze zusammen, welchen jedoch allen die Ansicht gemein ist, dass Ilias und Odyssee nicht von einer einzigen Person verfasst wurden, sondern eine Reihe von mündlich überlieferten Gesängen darstellen, die schließlich in einer Endredaktion zusammengefügt wurden. Schon in vorherigen Jahrhunderten, spätestens jedoch nach Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum war das Bild des blinden Ependichters Homers als Verfasser von Ilias und Odyssee mehr und mehr entzaubert worden.

Schiller umschrieb dieses Schicksal Homers mit dem folgenden Distichon:
Sieben Städte zankten sich drum, ihn geboren zu haben,
nun, da Wolf ihn zeriss, nehme sich jede ihr Stück!
Dass Ilias und Odyssee nicht auf eine gemeinsame Autorenperson zurückgehen können, greift von Hagen auf. Diese Ansicht ergibt sich für ihn aus der Gesamtlektüre der beiden Werke:

Doch worin genau sieht von Hagen den Unterschied, der eine identische Autorenschaft ausschließt? Im Folgenden führt er aus, dass er diese vor allem in der "geistigen Gesamthaltung des Ganzen" festmacht:

Zwei interessante Punkte der Homerforschung erwähnt von Hagen hier, erstens die Einschübe von dritter Hand und zweitens die Entdeckungen Schliemanns.
Dass das Verhältnis zwischen Text und archäologischen Funden bei weitem nicht so eindeutig ist, wie es von Hagen darstellt, zeigte sich zuletzt in der 2001 wütenden Korfmann-Kolb-Debatte.

(Schliemann begießt mit seiner Frau den Fund des Schatz des Priamos, während Hilfskräfte in der Mittagssonne den Rest aufräumen dürfen)

Neben Schliemann erwähnt von Hagen ausserdem "Einschübe von dritter Hand", sogenannte Interpolationen. Am berühmtesten ist die Theorie, dass der Staatsmann Solon Verse in den Schiffskatalog des zweiten Buches der Ilias einfügen ließ, um in Auseinandersetzung mit den Megarern den Anspruch Athens auf die Insel Salamis zu festigen (Il. 2, 557f):
Αἴας δ’ ἐκ Σαλαμῖνος ἄγεν δυοκαίδεκα νῆας,
στῆσε δ’ ἄγων ἵν’ Ἀθηναίων ἵσταντο φάλαγγες.

Aias aber führte zwölf Schiffe aus Salamis an,
und stellte sie dorthin, wo standen die Schlachtreihen der Athener.

(Beschreibung dieser Stelle in den Annotationes des Humanisten Guillaume Budé (1508))
Interessanter als homerische Interpolationenforschung erscheint jedoch an dieser Stelle die Sprache, welcher sich von Hagen bedient. So bezeichnet er Einfügungen in Ilias und Odyssee, mit welchen spätere Generationen die Werke in höherem Maße als Einheit erscheinen lassen wollten, als "Gleichschaltungsversuche" - eine nicht uninteressante Formulierungsweise in einem 1939 erschienenen Artikel. Wir fühlen uns ein wenig an Victor Klemperers "LTI" erinnert, und lesen geschärften Auges weiter:

Niemand hat nach der Erfahrung des zweiten Weltkriegs generell die Methode und Inhalte humanistischer Bildung mehr in Frage gestellt als Heinrich Böll in seiner Erzählung "Wanderer kommst du nach Spa..." Aber Achill - nein, er ist in der Tat kein Vorbild, kein Inbegriff eines besonnenen Überlegers. Vielmehr erscheint er nicht selten als verzogenes Kleinkind - jedoch als Kleinkind mit beträchtlicher Kampfkraft. Das Grundmotiv der Ilias, der Zorn des Achills, äussert sich an zahlreichen Stellen - im Groll beispielsweise darüber, dass Agamemnon ihm seine Liebessklavin weggenommen hatte, oder in der rasenden Vernichtungswut nach dem Tod seines geliebten Patroklos. Von Hagen sieht dieses Handeln der christlichen Gnade unterlegen:

Doch der Verfasser führt im Weiteren aus: Keiner der antiken Helden ist voll verantwortlich für seine Taten, da sie Werkzeuge in der Hand der Götter sind. Er enthebt die Helden eines Teils der Verantwortung für ihr Handeln - das sich bei Achill vom Niedermetzeln bis in das rachsüchtige Opfern von Gefangenen erstreckt. Denn diese föchten ja lediglich einen Stellvertreterkrieg für die Götter aus. Der besonnenste unter den untergangsgeweihten Trojanern, Hektor, habe verinnerlicht, dass er sich als Mensch diesem Herrschaftsprinzip fügen muss:

Unsere seit der "Gleichschaltung" sensiblen Ohren horchen erneut auf beim Begriff der Obersten Heeresleitung. Wir wissen um den weiteren Verlauf der Geschichte und des bald einsetzenden Krieges, in dem die Völker sich in ungeahntem Maße zerfleischten. Und bis heute diskutieren wir über die Frage der Verantwortung derer, die der "Obersten Heeresleitung" folgten. Gerade die Frage des Unterwerfens wurde später von Theodor Adorno aufgegriffen, welcher in der Figur des Odysseus den Prototyp der modernen Menschen sah, gerade weil er sich nicht dem Schicksalsplan der Götter blind unterwirft, sondern seine Geschicke selbst in die Hand nimmt.
Doch ob sich ein Frontsoldat unter den Umständen der letzten Kriegsjahren hinsichtlich seiner Freiheit und Schuld eher mit diesem autonomen Handlungsmodell der Odyssee identifiziert, oder dem obrigkeitsabhängigen der Ilias aus ihrer "führeren, barbarischen Entstehungsperiode" , darüber möchte ich nicht urteilen.

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Literaturhinweise:
1) Hagen, Maximilian v.: Das Bismarckbild der Gegenwart. Berlin 1929. [s. dort im Vorwort]

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